Korpuslinguistik als zivilrechtliche Arbeitsmethode (Arbeitstitel)

Das mit dem Messmer-Preis 2022 der Universität Konstanz ausgezeichnete Habilitationsprojekt „Korpuslinguistik als zivilrechtliche Arbeitsmethode“ soll der Einführung und Erforschung potentieller Einsatzfelder einer korpuslinguistischen Arbeitsweise im deutschen Zivilrecht dienen.

Die Korpuslinguistik beschäftigt sich mit der Analyse großer, in einer Datenbank zusammengefasster Textmengen („Korpora“). So enthielt bspw. der stetig wachsende deutsche Referenzkorpus (DeReKo) des Instituts für Deutsche Sprache Mannheim im Februar 2021 über 50 Milliarden Wörter. Mithilfe zahlreicher Tools ermöglicht die Korpuslinguistik empirische Aussagen zu einer Vielzahl linguistischer Fragestellungen. Hierzu zählt auch die für die Rechtswissenschaft besonders interessante Ebene der Bedeutung eines Begriffs.

Neben den relativ etablierten Korpora zum allgemeinen Sprachgebrauch gibt es seit 2016 nun auch erstmals einen deutschen Juristischen Referenzkorpus (JuReKo). Ferner existieren seit kurzem auch gerichtsspezifische Korpora; diese fassen bspw. alle Entscheidungen des Bundesgerichtshofs oder des Bundesverfassungsgerichts zusammen.

Forschungslücke

Auffällig ist, dass dieser korpuslinguistische Bestand der deutschen Rechtssprache bisher kaum durch Rechtswissenschaftler eingesetzt wurde. Dies dürfte nicht auf fehlende Anwendungsfelder, sondern allgemein darauf zurückzuführen sein, dass die empirische Analyse großer Datenmengen bisher in der Rechtswissenschaft weitgehend unbekannt war. Diese Forschungslücke soll insbesondere im Bereich der folgenden Problemstellungen geschlossen werden:

1. Juristische Auslegungsmethodik: Die juristische Auslegungsmethode geht traditionell von der Wortlautbedeutung eines Rechtssatzes aus und betrachtet abschließend dessen Sinn und Zweck. Es soll allgemein und anhand verschiedener Beispiele aus dem Zivilrecht untersucht werden, inwiefern die korpuslinguistische Analyse eines auszulegenden Begriffs dazu beitragen kann, juristischen Auslegungsergebnissen empirische Validität zu verleihen.

2. Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung: Eine praktische Herausforderung ist die Vorhersage einer hypothetischen Gerichtsentscheidung zu einem bestimmten Fall. Es soll untersucht werden, inwiefern vergangene Rechtsanwendungsergebnisse zu verschiedenen typischen Einzelproblemen des Zivilrechts korpuslinguistisch identifiziert und zur Vorhersage zukünftiger Rechtsanwendungsergebnisse genutzt werden können.

3. Präzisierung unbestimmter Rechtsbegriffe, insb. im Rahmen formalisierter Rechtsnormen: Rechtsnormen können auf der Grundlage von Systemen deontologischer Logiken in computerlesbaren Code überführt werden. Dies ermöglicht in experimentellen Anwendungen bereits automatisierte Compliance-Prüfungen, etwa im Bereich der europäischen Datenschutzgrundverordnung. Ein zentrales Hindernis bei der Umsetzung von Recht in Code ist jedoch weiterhin der Umgang mit unbestimmten Rechtsbegriffen (bspw. „berechtigtes Interesse“; „ohne schuldhaftes Zögern“). Da sich hinter diesen unbestimmten Rechtsbegriffen zumeist eine konkretisierende Rechtsprechung verbirgt, soll untersucht werden, inwiefern sich die Grundlinien jenes präzisierenden Richterrechts in Korpora der deutschen Rechtssprache ermitteln lassen können.

4. Rechtsvergleich und internationales Recht: Da mittlerweile auch Juristische Referenzkorpora zu zahlreichen ausländischen Rechtsordnungen existieren, soll auch erforscht werden, inwiefern sich mit der Korpuslinguistik eine neue Arbeitsmethode für die zivilrechtliche Rechtsvergleichung ergibt. Hierauf aufbauend soll betrachtet werden, ob ein korpuslinguistisch gewonnener Rechtsvergleich eine neue Erkenntnisquelle für sog. Qualifikationsprobleme im Internationalen Privatrecht sein oder Auslegungsschwierigkeiten im internationalisierten Recht lösen kann.

Mehrwert

Ein korpuslinguistischer Ansatz erscheint aus vielerlei Gründen vielversprechend: Da die Subjektivität des Rechtsanwenders im Rahmen eines empirischen Zugriffs auf die Bedeutung des Rechts kaum noch eine Rolle spielt, ist ein quantitativ gewonnenes Auslegungsergebnis von überragender Überzeugungskraft. Dasselbe gilt für korpuslinguistisch gewonnene Erkenntnisse in die Dogmatik und Struktur des Rechts. All dies könnte den Verbindlichkeitsanspruch so gewonnener Auslegungsergebnisse signifikant erhöhen und Auslegungsunschärfen beseitigen.

Eine quantitative Aussage über Rechtsanwendungsergebnisse könnte weiter die Rechtssicherheit und Vorhersagbarkeit von Gerichtsentscheidungen deutlich erhöhen und damit in vielen Fällen eine teure gerichtliche Klärung vermeiden. Dieses Potential besteht insbesondere im Hinblick auf die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe sowie im Bereich alltäglicher Massenverfahren. Dies verspricht bereits als solches eine deutliche Verbesserung der praktischen Wirksamkeit des Rechts, insbesondere zugunsten wirtschaftlich unterlegener Parteien. Hinzu kommt, dass eine quantitativ begründete Vorhersehbarkeit zukünftiger Rechtsanwendungsergebnisse eine zentrale Säule einer voll- oder semiautomatisierten Rechtsanwendung ist. Diese verspricht ebenfalls eine signifikante Stärkung der praktischen Wirksamkeit und Transparenz des Rechts.